Die Parallelen
von Rasmus M. Caplan
Aus dem Baumhochdeutschen übertragen von Professor Mingau
1.
Parallel sind wir zwei
Stämme gewachsen,
auf Mutter Erde frei
stehende Achsen.
Dein und mein Wurzelkreis
ohne Tangenten,
doch jede Faser weiß
in uns Getrennten,
dass wir zwei Elenden,
heillos getrieben
von uns vermählenden
Mächten, von quälenden,
sehnsüchtig schwelenden
Flammen, uns lieben.
2.
Sollt’ ich dem Anker der
Wurzeln entschweben,
mich dir in blanker Ver-
ehrung hingeben,
sollt’ ich mich neigen, dich
zartharzig schneiden,
um dir zu zeigen, ich
kann dich gut leiden,
stürzt’ ich mich, wallender
Wollust erliegend,
auf dich, als Fallender,
gleich würd’ mich krallen der
Teufel, nur schallender
lachend und siegend.
3.
Denn, unverhohlen, nur
als Parallele
zieht mich der Sehnsucht Schnur
zu deiner Seele.
Wächst du mit schleichender
Neigung zu mir her,
nicht meinesgleichen er-
kenn ich in dir mehr.
Nur sich Verwehrendes
spannt uns von innen;
leicht zu entbehrendes
Stammüberquerendes
weckt kein verzehrendes
Sehnen und Sinnen.
4.
Nie zu Erreichendes
nur kann ich lieben.
Auch du, mir Gleichendes,
gleich mir getrieben,
weißt uns verbunden in
doppeltem Leiden,
einsam empfunden in
jedem von beiden.
Schmerz nur, kein zünftiges
Taumeln der Triebe,
auch weder brünftiges
noch kühl-vernünftiges
Hoffen auf Künftiges
kennt unsre Liebe.
5.
So zeugt Erregung, die
unstillbar peinigt,
endlos Bewegung, die
nie uns vereinigt:
Die Spur der Tage zieht
straff uns nach oben,
doppeltem Klagelied
wachsend verwoben.
Zwei heiße Eisen, Ver-
schmelzung entsagend,
sind wir ein Reisender,
himmelwärts Weisender,
in den Raum Schneisen der
Ewigkeit schlagend.

Rasmus M. Caplan
morgenländische Platane,
entsprossen am 12.4. 1879
am Golf von Genua;
nach Berlin verpflanzt
am 4.5. 1888;
lebt und lehrt
im Treptower Park
Zur Biographie des Dichters
Rasmus Maria Caplan ist nicht allein Dichter: Er hat in der heutigen botanischen Öffentlichkeit eine unge- knickte Stellung als Königskerze der Literaturkritik und der literaturwissenschaftlichen Forschung inne. Seine wälderübergreifende Belesenheit, gepaart mit dem astreinen Stil seiner wissenschaftlichen Prosa, flößen selbst scharfkantigen Kritikern seiner kontrovers diskutierten Rhythmustheorie1) Respekt ein.
Caplans Karriere ist umso bewundernswerter, als er, der Sprössling einer seit mehreren Generationen am Golf von Genua gedeihenden Gruppe morgen- ländischer Platanen, deren Stammvater vermutlich im 14. Jahrhundert aus dem Orient importiert und nahe dem Landsitz einer wohlhabenden Genueser Patrizierfamilie angepflanzt worden war, als junger Baum nicht die in seinen Kreisen übliche vielseitige Bildung genossen hat.
Der kleine Rasmus wurde in frühester Jugend seiner mediterranen Heimat entrissen und nach Berlin ver- pflanzt2), wo der Überlebenskampf unter den unwirtli- chen Bedingungen des Nordens zunächst seine ganze Kraft absorbierte. Erst nach 20 Jahren hatte er sich eine gefestigte Stellung erkämpft, und konnte sich mit Laub und Seele der Literatur zuwenden.
In sein autodidaktisches Studium der Arboliteratur, das er seit 1908 betrieb, bezog er auch die Gehölze seiner Umgebung mit ein. Caplans ersprießliche Textanalysen regten viele Nachbarbäume im Treptower Park zu eigenstämmiger Lektüre an.
Auf diese Weise entstand, zur gleichen Zeit und in unmittelbarer Nähe der Archenhold-Sternwarte3), eine zweite bedeutende, gleichwohl von der mensch- lichen Population bisher vollkommen ignorierte wissenschaftliche Institution: die kleine aber feine Akademie der Poetischen Befruchtung4), die der mittlerweile 136jährige Caplan noch heute mit unverwelklicher Energie leitet.
Zum eigentlichen Durchbruch seiner knospenden Produktivität verhalf Caplan jedoch die von dem in Netzeband bei Neuruppin beheimateten, bedeutenden Dichter- und Verlegerbaum Heinrich Leupold5) herausgegebene Zeitschrift Das Kerbholz, von der er kurz nach ihrer Gründung im Jahre 1910 Wind bekam. Aus dem Mutterboden, den die herausragendsten Baumpoeten des Berliner Raums mit ihren Beiträgen zur Arboliteratur in den ersten Ausgaben dieser Zeitschrift bereiteten, erwuchs ein weit verzweigtes Geflecht fruchtbarer floral-ästhetischer Diskussionen.
Hier meldete Caplan sich schon bald regelmäßig zu Wort, und im Gegensatz zu vielen hölzernen Kollegen, die oft manifestartige Auswüchse ihrer persönlichen Stammweisheiten lieferten, symbiotisierte er die Diskussion, indem er die von anderen vorgebrachten Argumente akribisch zerpflückte und bis an ihren gemeinsamen Spätherbst zuende dachte. Das umfang- reiche Material dieser Kerbholz-Beiträge wurde schließlich zum Grundstock seines ersten Buches Philologischer Blütenstaub (1920), als dessen Autor er internationale Beachtung fand.
Es ist unmöglich, hier alle seither erschienenen Publikationen des ebenso fleißigen wie umtriebigen Kritikers und Philologen aufzuführen; zu den renom- miertesten gehören seine seit 1948 erscheinenden Jahrbücher der Arboliteratur, in denen nicht nur die aktuellen Forschungsarbeiten und Vorlesungsmanu- skripte der Treptower Literaturakademie nachzulesen sind, sondern auch jedes Jahr ein von Caplan neu entdeckter zeitgenössischer Dichter vorgestellt wird. Die Veröffentlichung von Werkproben ist jeweils mit einem Stipendium der Akademie verbunden. Auf diese Weise hat Caplan schon so manchen grünen, am Hungersande saugenden Poeten zum Weitermachen ermuntert.6)
Mit den ersten eigenen Gedichten beschrieb Caplan allerdings erst im Alter von 110 Jahren ein neues Ruhmesblatt seines ertragreichen Lebenswerkes. Abgesehen von einigen expressionistischen Jugend- sünden, die unveröffentlicht in der Schubkarre des Gärtners verschwanden, hatte er sich eigener dichterischer Versuche lange enthalten; er galt als jemand,
„dessen selbst auferlegtes amt es ist, jeder zeile, die ein anderer in luftigem überschwang stammelte und flüchtig dem frühlingswind preisgab, glatt geschliffen in den intarsien seiner interpretation, ein für alle mal ihren platz für die ewigkeit zuzuweisen“.7)
Doch 1989 veröffentlichte er mit dem schmalen Band Stimmen der Gabeln: Gabeln der Stimmen sein Debüt als Lyriker. Ihm folgte 1996 der umfangreichere Gedichtzyklus Floras Metrum, aus dem wir das oben stehende Gedicht für das Arbolyrikum auswählten.
Die hohe literarische Qualität des Werkes spricht für sich selbst. Caplan verknüpft hier das Thema der unerfüllbaren, aber ästhetisch vollendeten Liebe mit einem Grundbegriff der Geometrie: der Parallele. Gleichzeitig bringt er, wie zur Illustration seines gleichfalls 1996 erschienenen literaturtheoretischen Alterswerks Dichtung ist Rhythmus, Rhythmus und — Rhythmus, die klangliche Harmonie der mit ihren mehrfachen Endreimen einander umschlingenden und überwuchernden Verse mittels äußerster formaler Strenge des Versmaßes zum Schwingen.
Der Reiz einer sich als vollendet darbietenden metrischen Geschlossenheit nämlich verweist nach Caplans Rhythmustheorie auf eine Wurzelkonstante, deren innere Gesetzlichkeit (oder Schönheit) die Drohung der permanenten Naturkatastrophe, die sich im Zeitalter der Globalisierung auch und gerade im Reiche der so genannten Natur als Scheingesetz einer unaufhaltsamen, mit immer größerer Beschleunigung um sich greifenden Auflösung der Oberflächen, Maß- stäbe und biologischen Tatsachen Geltung verschafft, in ihrer bodenlosen Schwebe zu bannen und letztlich zu überwinden vermag.
Seit dem Sommersemester 2015 arbeitet Rasmus M. Caplan übrigens als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Baumphilologie und Theorie des Polterns direkt mit Professor Mingau zusammen.